Aktualisiert am 24. Dezember 2025.
In der Universitätsbibliothek Graz verbirgt sich ein außergewöhnlicher Schatz: rund 90 mittelalterliche Handschriften aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die eine faszinierende Besonderheit aufweisen. Es sind nicht die kunstvollen Illuminationen oder die liturgischen Texte, die diese Bücher so besonders machen, sondern etwas, das jahrhundertelang unter dem Radar der Kunsthistoriker:innen flog: kunstvolle Reparaturarbeiten auf dem Pergament selbst. Mit farbigen Seidengarnen, die über die Jahrhunderte nichts an ihrer leuchtenden Farbkraft eingebüßt haben.
Von Malta nach Graz
Theresa Zammit Lupi, Leiterin der Restaurierungswerkstatt der Sondersammlung, kam 2021 nach Graz – mitten in der Covid-Pandemie. Ihre Ausbildung führte sie von Malta über Florenz nach London, danach arbeitete sie in Malta, in der Schweiz, in Ägypten, Cambridge und Italien. Durch einen Kontakt zum inzwischen pensionierten Leiter der Sondersammlung und die gemeinsame Durchführung von Summer Schools zu den Bereichen Kodikologie (Handschriftenkunde), Konservierung und Buchgeschichte, erfuhr sie von einer freien Stelle und bewarb sich.
Als Restauratorin betrachtet Theresa die alten Handschriften anders als andere: Philolog:innen und Theolog:innen haben sich immer mehr für die Inhalte der Schriften interessiert, Kunsthistoriker:innen für die Malereien.
„Wenn man darin geschult ist, Materialien und Strukturen von Büchern zu betrachten, fällt der Blick automatisch auf diese Dinge“, erklärt sie ihre Herangehensweise. „Ich schaue mir eher die Struktur als den Inhalt an. Wenn Menschen ein Buch betrachten, schauen sie sehr oft, wie Paläographen oder Buchhistoriker, auf den Inhalt. Was ist das? Was steht darin? Für mich ist das hingegen fast zweitrangig. Ich schaue mir die Materialien an. Woraus besteht es? Was ist es? Pergament? Ist es Papier? Wie ist es genäht? Wie ist es zusammengesetzt? Welche Tinte wurde verwendet? Welche Farben wurden verwendet? Weil ich Restauratorin bin. Das ist mein Hintergrund. Ich betrachte die Struktur und die Materialien.“

Diese besondere Perspektive führte Zammit Lupi auch zu einer anderen bahnbrechenden Entdeckung: einem ägyptischen Papyrus-Fragment, das durch eine Mittelfalte mit Perforierungen möglicherweise das früheste bekannte Buchformat darstellt – etwa 300 Jahre vor allen anderen bekannten Büchern.
Ein verborgener Klosterschatz
Die Handschriften mit den Seiden-Stickereien stammen aus dem Stift Seckau (gegründet 1140), einem Chorherrenstift, das im Zuge der Klosteraufhebungen unter Joseph II. im Jahr 1782 aufgelöst wurde. So gelangten circa 340 Handschriften nach Graz, darunter die ca. 90 romanischen Handschriften, in denen sie diese Näharbeiten gefunden haben.
Thomas Csanády, Theologe und Leiter der Sondersammlung, erklärt: „Man hat immer noch gedacht, das sei eine lokale Besonderheit von Seckau, aber man sieht, dass das in vielen Klöstern vorkommt. Trotzdem wurde über diese Nähereien noch nicht viel geforscht. Den Kunsthistorikern war es ‚zu minder‘, es war nicht im Programm drinnen und sonst hat sich niemand darum gekümmert. Und selbst die Handschriften-Beschreiber haben es in den Handschriftenkatalogen nicht beschrieben, weil es unter dem Radar gelaufen ist.“
Heute gibt es eine kleine Community, die in Forschung investiert und die Ergebnisse publiziert.
Grundsätzlich war das Pergamentvernähen schon ein Prozess in der Herstellung des Pergaments. Die Pergamenthersteller haben Löcher im Pergament vernäht, die durch unabsichtliche Schnitte oder dünne Stellen in der Tierhaut entstehen konnten, damit sich die Löcher beim Spannen nicht vergrößern.
Aber bei diesen Stickereien ist die Qualität ganz anders. Die Löcher und Risse im kostbaren Pergament wurden nicht einfach geflickt – sie wurden zu kunstvollen Verzierungen. Teilweise wurden grobe Nähstellen durch wunderschöne Stickerei ergänzt und ersetzt.
Mit ungezwirnten Seidenfäden in unterschiedlichsten Farbtönen entstanden filigrane Muster: vom einfachen Hexenstich zu komplexen Füllstichen. Die Qualität variiert erheblich – von sehr groben bis zu außerordentlich feinen Arbeiten.
Material: Pergament, Seide, Färberwaid
Für Pergament wird die Tierhaut (meist Schaf, Ziege, Kalb) nicht gegerbt, sondern die Haut wird gespannt und getrocknet, die äußere Hautschicht mit den Poren abgeschabt. Beim Schaben wurden manchmal unabsichtlich Schnitte ins Pergament gemacht, und beim Spannen kann die Haut reissen, an Stellen früherer Verletzungen. Weil Pergament nicht einfach mit der Nadel zu durchstechen geht, wurden häufig Löcher (mit einer Ahle) vorgestochen und erst dann die Ränder zusammengenäht.
Die verwendeten Seidenfäden mussten im 12. und 13. Jahrhundert von weit her gehandelt worden sein, da es in Europa zu dieser Zeit noch keine Seidenproduktion gab. (Siehe meine Podcastfolge: Seide in Europa). Theresa Zammit Lupi findet es aber nicht überraschend, dass Seidenfäden vorhanden waren: In den Klöstern gab es Textilwerkstätten, in denen unter anderem liturgische Gewänder und Altarschmuck hergestellt wurden, bei denen auch kostbare Seide zum Einsatz kam. Es wäre möglich, dass Garnreste für die Reparatur der Bücher verwendet wurden.
Diese Seidenfäden wurde flach, nicht gezwirnt verarbeitet, was ihnen einen besonderen Glanz verleiht. Die Farb-Brillanz beim Blick durch ein Mikroskop ist erstaunlich. „Es ist so grün!“ war ich fasziniert. „Weil es zwischen den Buchdeckeln immer vor Licht geschützt war“, antwortete Theresa Zammit Lupi. Ich finde das unglaublich.
Luba Nurse, eine Textilkonservatorin am Textilmuseum St. Gallen, die ihre Doktorarbeit über diese Näharbeiten verfasst, machte eine weitere spannende Entdeckung: Winzige blaue Punkte rund um die Löcher deuten darauf hin, dass Markierungen per Schablonen mit Färberwaid auf das Pergament übertragen wurden, um gleichmäßiger perforieren zu können. (Färberwaid ist ein natürlicher blauer Farbstoff, der in Europa heimisch ist und bis heute zum Blaufärben von Stoffen eingesetzt wird.)
Zwischen Funktion und Schmuck
Ob die Stickereien reine Schmuckelemente waren oder auch funktionale Zwecke erfüllten, ist unklar. Ebenso rätselhaft bleibt, wer diese Arbeiten ausführte. „Wir wissen nicht, ob es Frauen waren, ob es Männer waren“, erklärt Thomas Csanády. Eines der Bücher, die wir uns genauer angeschaut haben, war ein so genanntes „Stundenbuch“ aus einem Nonnenkloster, mit Gebeten und liturgischen Gesängen.
Besonders faszinierend: Manche Löcher wurden mit größter Kunstfertigkeit gefüllt, andere blieben offen. Die Arbeitsabläufe waren unterschiedlich – manchmal wurde vor dem Beschriften gestickt, manchmal danach, wie man unter dem Mikroskop erkennen kann. Wenn die Stiche durch die Buchstaben gehen, wurde erst nach dem Beschreiben geflickt.
Die Analyse gleicht einer Detektivarbeit. An solchen Manuskripten haben meist viele Schreiber mitgewirkt, nicht alle hatten die gleiche Handschrift, und dann wird es spannend:
„Zum Beispiel einen nennen wir den ‚Isidor Schreiber‘, der hat so ein charakteristisches rückfallendes ‚S‘ und einige besondere Großbuchstaben, die wir erkennen, die immer wieder vorkommen“, erklärte Thomas Csanády. „Und wenn im Kontext von Isidor Schreiber verschiedene Fadenkombinationen der Stickerei immer wieder vorkommen, können wir Rückschlüsse auf das Skriptorium ziehen, wo der gearbeitet hat. Das sind Anhaltspunkte um herauszufinden, woher die Handschrift kommt.“
Die Näharbeiten finden sich in verschiedenen Regionen Europas, besonders in Klöstern, die von kirchlichen Reformen im 13. Jahrhundert beeinflusst wurden. In Klosterneuburg etwa sind Wulstnähte charakteristisch, in der Steiermark (Stift Seckau, Stift Vorau,…) wurde feiner gearbeitet. Durch die Analyse der Stichtechniken, Farben und Fäden können Forscher heute Rückschlüsse auf die Werkstätten ziehen, in denen die Handschriften entstanden.
„Wir wissen zum Beispiel, dass es einen Austausch von Manuskripten zwischen Seckau und Vorau gab, weil wir Muster erkennen, die sich in Manuskripten aus beiden Klöstern wiederholen. Ich glaube, dass die Menschen sich früher mehr bewegten, als wir denken. Da bin ich mir sicher“, erklärt Theresa Zammit Lupi.
Mittelalter-Edition und moderne Sichtbarkeit
Die Forschungsarbeit inspirierte Zammit Lupi zu einem Projekt für mehr Sichtbarkeit, und um die Sammlung in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Gemeinsam mit dem Jeanshersteller Levi’s wollte sie eine „Medieval Edition“ für Jeans entwickeln, in der die mittelalterlichen Nähtechniken in modernes „Visible Mending“ umgesetzt werden. Obwohl das Projekt mit Levi’s nicht zustande kam, bleibt die Idee bestehen, ein – natürlich mit Seidenfäden bestücktes – Nähset zum Selbermachen herauszubringen.

Eine weitere Kooperation kam jedoch zustande: Über CIS (Creative Industries Styria) wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, in dem Designer:innen sich kreativ mit den fast Tausend Jahre alten Stickereien auseinandersetzten. Die entstandenen Arbeiten wurden im Mai 2025 im Rahmen des Designmonat Graz ausgestellt. Dort bin ich auf diese wunderbaren uralten Handarbeiten aufmerksam geworden.
Ein lebendiges Forschungsfeld
Was vor wenigen Jahren noch unter dem Radar lief, wird nun von einer wachsenden Community erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die digitalisierten Handschriften können auf der Website der Universitätsbibliothek Graz betrachtet werden – ein Fenster in eine Zeit, als Bücher noch mit Hingabe, Kunstfertigkeit und Seidenfäden von Hand geflickt wurden.
Ich danke Theresa Zammit Lupi und Thomas Csanády, die sich im Juli 2025 Zeit für dieses Interview genommen und mir erlaubt haben, in den wertvollen, alten Manuskripten zu blättern!
Links
- Geschichte der heutigen Benediktinerabtei Seckau
- Auf https://unipub.uni-graz.at/obvugrseck kann man die Scans vieler Manuskripten aus Seckau betrachten. Die folgenden Manuskripte beinhalten Reparatur-Stickereien: Ms 0171, Ms 0242, Ms 0280, Ms 0282, Ms 0292, Ms 0293, Ms 0392, Ms 0435, Ms 0479, Ms 0755, Ms 0763, Ms 0769, Ms 0770, Ms 0778, Ms 0793, Ms 0864. (Viel Spaß beim Blättern und Entdecken!)
- Stitching the Centuries: Von den Stickereien inspirierte Arbeiten von Designer:innen wurden beim Design Monat Graz 2025 ausgestellt















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