Das Textilportal Magazin

Kleidung selbst zu nähen kann glücklich machen (Podcast #018)

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Aktualisiert am 18. Mai 2024.

In dieser Podcastfolge habe ich Meike Rensch-Bergner, auch bekannt als „Frau Crafteln“ zu Gast. Wir sprechen über hügelige Frauenkörper, auf die Kleidung von der Stange einfach nicht passen kann; Wie passende Kleidung das Selbstvertrauen stärkt und Energien frei macht; und über mehr Sichtbarkeit von Frauen, die wir uns wünschen.

  • 00:01:45 Der Moment, wenn ein Kleidungsstück richtig gut passt
  • 00:06:00 Kleidung von der Stange kann gar nicht passen, weil Körper unterschiedlich sind
  • 00:10:15 Sich passende Kleidung nähen führt zu mehr Zufriedenheit und Selbstvertrauen
  • 00:15:35 Meike zeigt in Kursen, wie man sich gut passende Kleidung nähen kann
  • 00:23:00 „Wir sind textile Analphabeten“ und „Nähen ist das neue Kochen“
  • 00:31:58 Mitmachaktion „Das rote Kleid“
  • 00:41:33 Schlussworte
Gabriele

Heute geht es um das Selbst-Herstellen von Kleidung als revolutionärer Akt. Zu diesem Thema habe ich Meike Rensch-Bergner aus Hamburg zu Gast, vielen bekannt als „Frau Crafteln“ auf Instagram, und über ihre Website crafteln.de. Meike ist Buchautorin, Feministin, Vortragende und Kursleiterin. Sie unterstützt Frauen dabei, Kleidung zu nähen, in der sie sich selbstbewusst zeigen können.

Gabriele

Herzlich willkommen, Meike. Schön, dass du da bist.

Meike

Ja, Hallo Gabi, ich freue mich, hier zu sein. Das ist lustig: du hast so ein bisschen gestockt bei dem „Crafteln“. Ich habe nämlich zu dir gesagt: Man muss das gar nicht amerikanisch aussprechen, „Crafteln“. Man darf das so richtig derb Deutsch sozusagen, oder Österreichisch sagen. Aber das machen ganz viele, und insofern: Ja! Mal ganz interessant. Vielen Dank für die Begrüßung und für die nette Vorstellung.

Gabriele

Ja, sehr gerne. Jetzt haben wir es endlich geschafft! Wir haben ja schon länger überlegt, wie wir uns gegenseitig in unsere Podcasts einladen können. Und heute passt das finde ich total gut, weil am Ende werden wir auch zu sprechen kommen auf eine Aktion, die du gerade laufen hast, noch bis Ende Mai, aber dazu kommen wir später. Heute geht es um das Thema „Kleidung selbst Nähen als Selbstermächtigung“, würde ich jetzt mal so sagen. Und in deinem Buch „Abschaffung der Problemzonen“, das 2022 erschienen ist, a beschreibst du den Moment, als du dir einen Mantel genäht hast und vor dem Spiegel stehst: Und dieser Mantel passt, und er sieht toll aus an dir. Also selbst ein Kleidungsstück genäht zu haben, das dir passt, das dich toll aussehen lässt, das beschreibst du als so einen, fast einen Moment der Erleuchtung, in dem dir sehr viel klar geworden ist.

Der Moment, wenn ein Kleidungsstück richtig gut passt

Meike

Ja, so ein Erweckungsmoment. Ja, ganz genau. Also das war wirklich so, dass ich ja vorher, ich konnte schon ein bisschen nähen. Ich habe in der Pubertät genäht, ich habe dann Kinderkleidung genäht und habe auch einfache Kleidungsstücke genäht. Aber so ein Mantel ist ja schon auch noch mal so ein Ding, so ein Ganzkörper-Kleidungsstück. Und da steckte tatsächlich ganz viel Arbeit und Gehirnschmalz und tatsächlich auch Hilfe von meiner Lehrerin mit drin. Und der passte dann auf einmal so, und zwar dahingehend, dass er meine Figur umschmeichelte. Also nicht wie so ein Sack nur verhüllte. Sondern ich war sichtbar in diesem Mantel. Also ich, mit mir, mit meiner Figur, so wie ich bin. Und dadurch, dass ich ja für den Mantel auch den Stoff ausgesucht hatte und den Schnitt ausgesucht hatte, war es auch noch so, wie ich aussehen will, wie ich mich der Welt zeigen will, sichtbar. Und das war tatsächlich eigentlich das erste Mal. Weil als Kind habe ich halt die Kleidung ausgesucht bekommen, die meine Mutter ausgewählt hat, weitestgehend. Und dann so in der Pubertät fing das an, oder dann etwa so in den frühen Erwachsenenjahren, dass ich eben moppelig wurde. Und dann eben in Geschäften einkaufen konnte nur noch mit einer großen Größe, die eine begrenzte Auswahl hatten. Wo ich nicht immer das anziehen konnte, was ich wollte. Und das war dann ja wirklich im Erwachsenenalter dieser erste Moment, wo ich dachte: Das bin ich! So kann ich mich der Welt zeigen! Und das war hoch emotional. Das war sehr berührend.

Gabriele

Ja, weil es ist ja tatsächlich schwierig… Also ich war immer extrem dünn. Außer in den Schwangerschaften, da hatte ich dann quasi so einen Basketball vornedran. Und war aber immer ganz schlank, und hatte nie das Problem, dass mir die Sachen nicht gepasst haben. Also ich war so immer klassisch, Größe 36 H&M hat mir gepasst. Da habe ich nicht nachdenken brauchen, habe ich einfach kaufen können. Und erst jetzt, mit fortschreitendem Alter, hat sich mein Körper jetzt auch verändert, habe ich auch zugenommen, Wechsel usw. Erst jetzt stehe ich vor dem in Anführungszeichen „Problem“, dass ich weniger Auswahl habe. Aber sagen wir mal diese Maßkleidung oder diese Kleidung von der Stange passt manchen. Und „Plus Size“ kommt ins Bewusstsein der Modeindustrie. Aber es ist immer noch schwierig. Aber trotzdem ist es…

Meike

Ja, und je mehr Körper, umso schwieriger ist es, das auch passgenau vorzuproduzieren, industriell. Weil dieses „Mehr“ an Körper ja auch an unterschiedlichen Stellen sitzen kann. Und was du auch beschreibst, du hast jetzt ja rein die Größe, oder die die Körperpassform beschrieben. Und das zweite Argument bei „passend“ ist ja: Wie will ich mich der Welt zeigen? Also gibt es das, was ich ausdrücken will? Und selbst diejenigen die eine „einfachere“ Figur haben, weil die stärker an dieser Normfigur dran ist, finden nicht immer das, was sie ausdrücken wollen.

Gabriele

Oh ja. Unterschreibe ich zu 100 %. Ich habe immer shoppen gehasst. Total gehasst! Weil ich eine gewisse Vorstellung hatte davon, was ich haben möchte. Welcher Schnitt das sein soll, wie der Stoff aussehen soll, welche Farbe. Ich war dann einkaufen, weil ich halt eine Hose brauchen, habe halt eine Hose gekauft, die halt so ungefähr dem entsprochen hat, aber ich war nie so richtig zufrieden. Und dieses „Shoppen gehen, um mir was Gutes zu tun“, oder um mir was zu leisten, oder was zu gönnen: Das hatte ich nie, weil ich immer unzufrieden war mit der Auswahl, die es da gab.

Meike

Ich glaube, das ist eh ein Mythos. Das ist eine kapitalistische Erzählung, dass Frauen gerne shoppen. Ich glaube, dass vieles tatsächlich auch aus Verzweiflung geschieht, dass von Laden zu Laden gelaufen wird, bis sozusagen irgendetwas mitgenommen wird, was halt einigermaßen passt. Und wir sind da als Konsumentinnen darauf getrimmt, auch Kompromisse zu machen.

Kleidung von der Stange kann gar nicht passen, weil Körper unterschiedlich sind

Gabriele

Ja, also aus dem, was da ist, aus dem Vorhandenen das kleinste Übel quasi mitnehmen. Bis zu einem Teil. Aber du schreibst ja auch: die Varianz der Körperformen nimmt mit zunehmendem Alter und Gewicht zu. Wenn man eine Schwangerschaft, oder mehrere Schwangerschaften hinter sich hatte, die Menopause oder überhaupt

Meike

Das Leben!

Gabriele

Ja, der Körper verändert sich im Laufe des Lebens. Und je größer die Größe wird, desto unförmiger, sackartiger wird die normalerweise von der Stange. Weil die eine hat schmale Schultern und eine breite Hüfte, die andere hat breite Schultern und eine schmale Hüfte und dazwischen vielleicht am Bauch. Also je älter man wird, desto unterschiedlicher werden auch Körper, und desto schwieriger wird es, die in eine vorgefertigte Normkleidung reinzuquetschen.

Meike

Vor allen Dingen, wenn es designed wird von einer Ausgangsgröße, oder einer Schneiderpuppe, von so einem Ausgangsmodell, was eben einen jugendlichen Körper hat. Und zum Beispiel sinkt im Laufe des Lebens der Brustpunkt nach unten. Die Schwerkraft holt sich das einfach. Und wenn, dann einfach nur diese straffen Puppen, die ja so sieht, die dann einem jugendlichen Normkörper entsprechen, wenn das einfach nur größer gemacht wird, kann das nicht hinhauen. Also es müssen auch diese Altersveränderungen berücksichtigt werden. Und das ist auch was, was ich in zunehmendem Maße mache. Früher war das so, dass ich mich hauptsächlich um Plus Size Frauen gekümmert habe. Und wie du auch schon sagst: Das Angebot ist etwas besser geworden, an Kleidung. Aber mittlerweile habe ich verstanden, dass es insbesondere auch dieses Lebensphänomen ist. Dieses Altersphänomen, ausgehend von Schwangerschaften, über die Schreibtischarbeit, wo wir so gebückt sitzen, und dann die Menopause, und eben die Alterserscheinung, die den Rücken runden usw. Dass das diese stärkere Individualität hervorbringt, und dass ich noch viel mehr mit diesen „Passform-Problem“ arbeite. Und dass es gar nicht mehr so darum geht ob dünn oder dick. Weil das ist gar nicht der Punkt.

Gabriele

Ja, weil jeder Körper ist unterschiedlich und davon auszugehen, dass eine Kleidung von der Stange – oder sogar eine Kleidung, die ich mir nach einem Schnittmuster, dass ich mir gekauft habe, nähe – dass die mir von Anfang an passt, das ist ziemlich unrealistisch. Manchmal lese ich so von: „Hach! Meine Affenarme! Ich muss die Ärmel um zehn Zentimeter verlängern.“ Oder: „Ach, mein Rundrücken!“, oder: „Ach, mein Hohlkreuz!“ Und ich denke mir: Frau, du hast diesen Körper. Deine Arme sind so lang wie sie sind. Und diese selbst-abwertenden Wörter, die ich da manchmal so lese, das tut mir dann immer weh! Weil ich mir denke: Nein! Man muss sowieso das Schnittmuster auch anpassen, außer man hat gerade Glück.

Meike

Ja, aber das ist das System. Also das ist das System, in dem wir leben, was ich ja auch mit „Abschaffung der Problemzonen“ bekämpfe. Da wird dann eben der Körper als Problem dargestellt, oder einzelne Körperzonen als Problemzonen. Und wir haben verinnerlicht – durch die Botschaften, die wir unser Leben lang empfangen -, dass wenn irgendwas nicht passt, dass es dann an uns liegt. Dass wir oder unser Körper schuld oder falsch sind. Und dem begegnen wir mit einer Scham. Und diese Scham führt dann auch dazu, dass wir das gar nicht mehr hinterfragen, weil diese Scham ein Gefühl ist, was uns lähmt. Und letztendlich sind aber Schnittmuster genauso Massenware wie Kaufkleidung. Das ist eben etwas von einem Ausgangsstück, von einer Ausgangsgröße, von einer Ausgangs-Kleidungsstück oftmals, was dann eben ausprobiert wird. Und es sitzt dann bei dieser Kleidungsgröße gut. Und dann wird das einfach nur nach bestimmten Hypothesen größer gemacht. Und es wäre ein Wunder, wenn das passt. Und das Interessante ist, dass wir immer auf dieses Wunder hoffen. Also dass wir immer sagen: Beim nächsten Schnittmuster wird es besser! Das ist wie dieses, was wir eben mit dem Einkaufen hatten: Wenn ich noch zwei Läden weitergehe, dann finde ich das richtige Kleidungsstück. Weil wir eben so in uns drin haben: Wir sind falsch. Unser Körper ist falsch. Und wir müssen nur so lange suchen, wir müssen ackern, wir müssen losgehen. Oder wir müssen unser Körper verändern, damit wir in diese Kleidung reinpassen. Und das ist eine Doktrin. Das ist das, was wir gelernt haben. Und das ist das, was mich so wahnsinnig stört und was ich abschaffen will.

Sich passende Kleidung nähen führt zu mehr Zufriedenheit und Selbstvertrauen

Gabriele

Irgendwo habe ich mal in einem Blogpost geschrieben: Was bildet sich diese Hose eigentlich ein, dass sie glaubt, ich muss in sie reinpassen. Die Hose soll sich gefälligst mir anpassen! Und das hat aber ganz stark was zu tun mit Selbstvertrauen, mit Akzeptanz auch. Ich bin so wie ich bin.! Mein Körper ist so wie er ist! Und anstatt zu versuchen mich in die Lieblingshose von vor fünf Jahren reinzuquetschen – in die ich einfach nicht mehr reinpasse, und auch nicht mehr reinpassen werde – ist das so ein Akt der Selbstermächtigung, wenn ich mir selber Kleidung nähen kann, die nicht nur auf meinen Körper passt. Und den umschmeichelt. Und die vielleicht sogar die Stärken hervorhebt, aber die auch zu mir als Persönlichkeit passt. Das finde ich das ganz Tolle und deswegen… Wir kennen uns ja auch aus dieser Bloggerszene. Ich habe ja vor sechs, sieben Jahren angefangen, meine Kleidung selbst zu nähen. Und ich habe noch ein paar alte Kauf-Kleidungsstücke, die halt da sind, und ein paar vom Secondhand. Aber zum großen Teil, zu 80 % ist meine Garderobe inzwischen selbst genäht, und passt zusammen, und ich liebe das so! Wenn ich einfach nur reingreifen brauche, und ich kann das untereinander kombinieren! Jetzt kann man natürlich sagen: Das ist ein bisschen ein Luxusproblem. Das können wir hier im Westen: Ich kann mir den Stoff kaufen, ich kann mir das so nähen, ich kann mir überlegen, was hätte ich denn gerne und wie würde ich das denn gerne? Aber gleichzeitig habe ich festgestellt, dass ich sehr viel weniger Kleidung besitze, seit ich das selber mache. Erstens, weil es länger dauert: Bis ich den Schnitt, den Stoff habe, das genäht habe usw. Und dann auch, weil ich gar nicht so viel brauche, und gar nicht zweimal im Jahr neue Sachen einkaufen gehen muss. Weil vorher war es Lilablassblau, und jetzt ist Gelbgrün [in Mode].

Meike

Also ich glaube, da muss man noch mal ein bisschen genauer hingucken. Und zwar zum einen… Also ich fange mal bei dem „Ich brauche nicht mehr so viel Kleidung“ an. Wir brauchen dann viel Kleidung, wenn die halt alle nicht super ist. Und du hast ja gesagt, diese Hose soll sich dir anpassen, sozusagen. Also du hast den Gedanken umgedreht. Und das braucht ganz viel Selbstvertrauen. Und ich glaube, das ist der Ansatz, der oftmals nochmal neuen Druck macht. Also es gibt ja diese „Body Positivity“ Bewegung, die ganz viel mit „Self Love“ und Körperakzeptanz usw. arbeitet. Und das ist total schwer. Also es ist einfach super, super schwer zu sagen: Ich lieb mich! Ich find mich toll, so wie ich bin. Und nach meiner Erfahrung kann ich da noch so viel meditieren, oder gelbe Klebezettelchen an den Spiegel hängen, wo draufsteht: „Ich bin schön!“ Oder solche Sachen. Das ist total schwer, dieses Selbstvertrauen zu entwickeln. Und das ist auch wieder eine Selbst-Optimierungs-Aufgabe, letztendlich. Nach dem Motto: „Dann steigere doch einfach dein Selbstvertrauen! Und dann bist du schon zufriedener mit dem Kleiderschrank.“ Und ich glaube aber – und deswegen bin ich ja bei diesem Thema Kleidungsnähen -, dass wenn wir anfangen zu sagen: Ich nehme das selbst in die Hand. Ich nehme nicht mehr das, was uns angeboten wird. Und mach das dann selber. Das dauert dann auch länger, ich muss dann genauer hingucken, ich muss die Techniken lernen. Und dann entsteht aber aus diesem „ich habe es selbst gemacht“ und „ich trage das, was genau richtig für mich ist“, entsteht ganz langsam dieses Selbstvertrauen. Und das führt dann dazu, dass wir tatsächlich nicht mehr so viele Sachen brauchen, weil eben nicht mehr so viel Falsches da ist, was uns immer wieder diese Selbstoptimierungsaufgabe gibt. Also in dem Moment, wo wir ein Kleidungsstück anziehen, morgens, was zwickt und zwackt, weil es irgendwie nicht passt, kriegen wir quasi wieder diese Aufgabe, so nach dem Motto: „Oah, du musst jetzt merken, du bist nicht richtig, du musst dich selbst optimieren.“ Also entweder dir sagen, dass du dich liebst, oder du musst ganz viel Sport machen. Oder irgendwas, wie du dich anpassen kannst. Und das ist total stressig! Und was du beschreibst, mit den weniger Kleidungsstücken, was natürlich auch über Jahre hin sich erst entwickelt. Weil man muss das ja erst lernen. Man muss das nach und nach sich erarbeiten. Das schafft so eine innere Ruhe, irgendwann. Und daher kommt dann dieses: Ich brauche gar nicht so viele Kleidungsstücke. Ich glaube, das ist für manche überfordernd, wenn man sagt: Ich habe jetzt so und so viele Prozent Kleidungsstücke, die selbst genäht sind, im Schrank. Für diejenigen, die beginnen, kann man ruhig auch sagen: Das ist eine Reise. Das dauert ein paar Jahre.

Gabriele

Oh ja! Ja das ist ganz wichtig, dass du das sagst. Weil, wie gesagt, ich habe jetzt sieben, acht Jahre lang,… Nicht ganz viel. Jedes Jahr vielleicht drei, vier Sachen oder so. Und dann Stück für Stück für Stück ergänzt. Und ich bin jetzt sicher auch an dem Punkt… Wie du sagst, es ist eine Reise. Aber trotzdem finde ich das so schön: Es gibt ja nicht umsonst auf Instagram den Hashtag „Nähen ist wie zaubern können“. Und das denke ich mir immer wieder, wenn es wirklich passt. Ja wenn alles alles rundum, das perfekte Kleidungsstück. Es gibt natürlich auch immer wieder mal Fehlgriffe. Oder ich nähe was, und dann denke ich mir: Äääh, aber so toll ist es jetzt doch nicht, oder das gehört noch anders oder so. Du unterstützt ja Frauen dabei. Sich selber passende Kleidung zu nähen. Hast du ein Studio in Hamburg eigentlich? Das habe ich dich noch nie gefragt.

Meike zeigt in Kursen, wie man sich gut passende Kleidung nähen kann

Meike

Ich gebe Onlinekurse und ob man das/ Also Studio finde ich klingt jetzt sehr groß. Das erinnert mich an so ein Fernsehstudio oder so was. Nein, so kompliziert ist es tatsächlich nicht. Ich habe ein Büro, und dort arbeite ich mit zwei Kameras, wenn ich Kurse gebe. Die eine zeigt mich, sodass ich dann auch am Rechner die Menschen sehen kann. Und die andere, da kann ich aufstehen und kann was zuppeln an meiner Kleidung, oder am Flipchart malen, oder zeigen oder so was. So ganz groß ist es nicht, aber es geht. Weil wenn ich Frauen zeige, wie sie gut passende Kleidung nähen können, dann unterscheidet sich das von einem Nähkurs. Also einem Nähkurs ist es ja ganz oft so, dass dann die Nählehrerin einem das quasi aus der Hand nimmt, und dann macht. Und dann so zeigt, wie irgendwas geht. Das ist, wie Frauen auch oft das bei mir erhoffen, sozusagen, weil sie das kennen, aus Nähkursen. Aber ich arbeite ganz anders. Ich versuche den Frauen zu erklären, wie der Körper funktioniert. Also wie Körperbewegungen gehen und wie Kleidung funktioniert. Und wie dieser zweidimensionale Stoff, oder das zweidimensionale Schnittmuster, zu einem dreidimensionalen Ding wird, was sich um einen dreidimensionalen und bei Frauen sehr hügeligen Körper hüllt. Und das hat ganz viel mit Verstehen auch zu tun. Mit: Ja, jetzt verstehe ich endlich, wie die Zusammenhänge sind, wie das funktioniert. Und dazu brauche ich jetzt tatsächlich kein großes Fernsehstudio. Das geht auch mit kleinem technischem Aufbau. Aber mit ganz viel Gehirnschmalz. Ich habe wirklich tatsächlich jahrelang gebraucht, bis ich das, was ich von verschiedenen Näh-Lehrerinnen gelernt habe, die ja Praktikerin sind, in eine Form von Theorie, Methode entwickeln kann, die einen logischen Zusammenhang hat. Und dann auch noch so einfach erklärt werden kann, dass sie mit so einfachen Bildern und Eselsbrücken auch für jemanden zu verstehen ist, die eben nicht so theoretisch denkt, wie ich das vielleicht tue. Auch das war ein langer Prozess. Und der war eher ein langer Gehirnschmalz-Prozess als ein langer technischer Aufbereitungsprozess.

Gabriele

Ja, ja, hat es. Es gibt ja so Schnittmuster. So. Es gibt ja so Ausbildungen.

Meike

Konstruktion meinst du?

Gabriele

So Konstruktionsdingens. Wie heißen die jetzt? Schmidt und.. Sohn?

Meike

Ja, das sind diese Schnittkonstruktions-Systeme. Da gibt es mehrere.

Gabriele

Müller und Sohn Schnittzeichensystem, zum Beispiel.

Meike

Müller und Sohn, genau. Und da gibt es eben verschiedene, die von den Körpermaßen ausgehend bestimmte Dinge messen und bestimmte Dinge berechnen, und daraus Grundschnitte aufstellen. Das habe ich tatsächlich auch gelernt. Das ist aber für jemanden wie mich, die etwas Design-unbegabt ist, total schwierig. Weil ich kann zwar ein passendes Schnittmuster dann aufstellen, aber das wird total langweilig. Also wir sind auch verwöhnt davon, dass Kragen bestimmte Formen oder Größen haben, die sich durch die Mode ändern und die wir dann haben wollen. Und beim Grundschnitt lernt man wirklich immer nur dieses ganz Einfache. Und das zweite, warum ich auch eben nicht Schnittkonstruktion unterrichte, sondern Schnittanpassung. Also ich kann dann einfach irgendwelche Schnittmuster, die sich irgendjemand, der designbegabter ist als ich, nutzen, und das auf den Körper anpassen. Und das zweite ist, bei der Schnittkonstruktion habe ich auch gemerkt: Da kommt auch noch kein fertiger, perfekter Schnitt raus. Also Perfektion gibt es ja sowieso in meinen Augen nicht. Aber da ist hinterher auch noch ganz viel zu tun. Da müssen dann auch noch sogenannte Feinanpassungen gemacht werden. Und ich war eigentlich relativ enttäuscht von dem, was bei der Schnittkonstruktion rauskommt. Und deswegen habe ich gedacht: Okay, als Hobbyschneiderin müssen wir gar nicht den ganzen Prozess vom Urknall an können. Sondern es reicht, wenn wir die Vorarbeit nutzen können – eben gekaufte Schnittmuster – und akzeptieren, dass diejenigen, die die Schnittmuster machen, uns nicht kennen. Das heißt, wir nutzen das Design und wir nutzen dann das Wissen über unseren Körper, und das fügen wir zusammen. Und genau an dieser Schnittstelle arbeite ich.

Gabriele

Spannend. Das ist jetzt für diejenigen, die das selber nähen lernen wollen oder selber sich Kleidung machen wollen. Für alle, die das nicht wollen, gibt es ja auch immer noch den Weg zur Schneiderin.

Meike

Ja, genau.

Gabriele

Wäre eine Möglichkeit. Und dazu habe ich auch eine Folge geplant, wo ich mit einer Maßschneiderin spreche, die aber auch ganz viel Anpassungen macht.

Meike

Absolut! Und auch bei der Maßschneiderin ist es ja so, dass du nicht hingehst und quasi einmal studiert wirst, wie du aussiehst, und dann holst du ein fertiges Kleidungsstück ab. Viele Leute denken dann, das würde so funktionieren. Nein! Die machen auch mehrere Anproben, und gucken sich das noch mal genau an, ob das, was sie sich überlegt haben, funktioniert hat. Und Hobbyschneiderin denken oft: „Das ist mir von der Nadel gehüpft“, auch so einer Formulierung aus unseren Kreisen. Und sind dann enttäuscht, wenn es nicht stimmt. Also, das wird total spannend deine Folge mit der Maßschneiderin dann, weil die wird genau solche Sachen erzählen, dass sie sich auch dem annähert. Und das wird vielleicht auch noch mal der einen oder anderen, die zu früh enttäuscht ist, bei ihren Ergebnissen, auch noch mal dieses „Aha!“ geben, zu sagen: Ja, das ist auch okay. Jeder Stoff verhält sich anders. Und ich muss da vielleicht nochmal drangehen und gucken.

Gabriele

Ja, die in mehreren „Iterationen“, wie es bei den Computermenschen heißt. Man probiert was aus, und dann passt man das noch ein bisschen an, und dann nochmal. Es ist nämlich auch, wenn es dann heißt: „Oh, Maßschneiderei! Das ist ja so wahnsinnig teuer!“ Das kommt immer darauf an. Wenn wir davon ausgehen, dass Kleidung, die wir jetzt von der Stange kaufen können, viel zu billig ist, dann ist ein Kleidungsstück, das ich mir einmal leiste, und das ich dann vielleicht die nächsten 20 Jahre tragen kann. Sofern ich nicht gerade in wahnsinnig umwälzenden Körperveränderungen bin. Das ist dann einfach auch gut investiertes Geld, wenn mir das gut passt.

Meike

Absolut! Und selbst wenn dein Körper sich verändert: Wenn du weißt, warum das gut passt, und wie das so entstanden ist, dass es gut passt, kannst du es sogar verändern. Also weil du dann ja verstanden hast, wie das Kleidungsstück funktioniert. Und dann ist es auch möglich, was daran wieder zu machen. Und du hast vorhin dieses „Nähen ist wie zaubern können“ erwähnt. Ich habe da gewisse Probleme mit dieser Formulierung. Ich verstehe, was du meinst im Sinne von: Das Ergebnis ist so, dass man denkt: Oahhh! Toll! Da hat eine Fee mir was gebracht! Aber es ist eben nicht „Bums!“ und dann ist es da. Das stellt man sich ja bei zaubern auch vor. Da sagt man einen Zauberspruch und dann passiert was. Und dieser Weg, den wir eben beschrieben haben, die Iterationen, die Anläufe, diese sozusagen vorläufigen oder Zwischenergebnisse, die man dann eben noch bearbeiten kann, wo zum Teil, das Stück sich verändert. Aber wo wir auch jedes Mal ja was lernen und sagen: Ach ja, stimmt! Wenn ich das berücksichtigt hätte, dann würde das so gehen. Das gehört eben dazu.

Gabriele

Ja, ich verstehe dieses „Nähen ist wie zaubern können“ mehr so, dass ich mir selber was machen kann, das ich einfach ganz toll finde. Also es ist für mich wirklich dieses „selber machen können“. Nicht abhängig davon zu sein, dass jemand anderer was für mich herstellt, oder dass ich das finde, was ich gerne hätte, sondern dass ich das selber machen kann.

Meike

Also dass du die magischen Kräfte hast, sozusagen.

Gabriele

Ich habe die magischen Kräfte, genau. Ich kann zaubern, indem ich das [mache]. Und das war für mich lange Zeit so ganz logisch: Ja klar kann man nähen! Oder wenn eine Patchworkdecke nähe – ich mache ja alles Mögliche: Ja klar kann man Patchwork nähen! Und für manche ist es gar nicht klar, dass man das kann. Das war auch so ein Reifeprozess zu merken: Aha! Nein, es ist schon was Besonderes, das auch zu können.

„Wir sind textile Analphabeten“ und „Nähen ist das neue Kochen“

Meike

Ja, das ist mir als ich das Buch geschrieben habe, „Abschaffung der Problemzonen“ klar geworden, dass einfach die allermeisten Menschen um mich herum textile Analphabeten sind. Und das ist jetzt überhaupt nicht böse gemeint. Sondern es ist einfach so, dass sich das so entwickelt hat, dass diese Produktion von Kleidung ganz weit weg ist. Und das ist ja sogar geographisch so weit, dass wir das in andere Kontinente verlagern. Und früher war eben die Produktion von Kleidung etwas, was im Haushalt stattgefunden hat. Und man hatte da ein viel engeres Verhältnis dazu. Und dann habe ich Freundinnen gehabt, wo ich wirklich so dieses Gefühl hatte: Für die fällt Kleidung vom Himmel! Die kommen nicht auf die Idee, es selbst zu machen. Das war für mich auch total undenkbar. Nach vielen Jahren selbst Nähen auch. Aber ich glaube, es ist fast der Normalzustand in unserer Welt, in der wir leben. Dass Leute glauben, dass Kleidung halt irgendwo herkommt.

Gabriele

Strom kommt aus der Steckdose und Kleidung kommt aus dem Kleidungsgeschäft. Ein ganz spannender Aspekt, wo wir jetzt da sind, finde ich auch, dass du sagst: Nähen ist das neue Kochen. Du hättest gerne, dass es in jedem Haushalt wieder eine Nähmaschine geben soll, genauso wie es den Herd gibt. Und auch ganz spannend – und das kann ich auch nachvollziehen – ist dieses: Ich habe lange Zeit nicht erzählt, dass ich einen Handarbeitsblog habe. Weil ich mich bis zu einem gewissen Grad geschämt habe dafür, zu sagen: Ich stricke und ich nähe. Und du hast diesen wunderbaren Satz in dem Buch: Beim Handarbeiten verarbeiten wir weiche Materialien mit kleinen Werkzeugen, und Männer verarbeiten harte Materialien mit großen Werkzeugen.“ Und das männliche Handwerken ist immer noch wichtiger oder positiver

Meike

Höher angesehen.

Gabriele

Höher angesehen als das weibliche Handarbeiten. Und ich habe mich getroffen gefühlt. Ich habe mich so: „Hups! Ja, das stimmt. Ich habe tatsächlich ganz lange so verschämt [gesagt]: „Ich habe einen Handarbeitsblog.“ Wo manche das ganz toll finden. Aber ist auch einfach eine, wie soll ich sagen, …

Meike

Ein vorauseilender Gehorsam, das Weibliche abzuwerten.

Gabriele

Ja, mich klein machen.

Meike

Ja, ich weiß! Viele Leute sagen, dann ist es schwierig, das so deutlich zu formulieren. Aber ich finde, also ich bin jetzt in einem Alter angelangt, mit Mitte 50, jetzt mal auf den Tisch zu hauen und die Sachen zu benennen. Es ist ein vorauseilender Gehorsam, weibliche Tätigkeiten abzuwerten. Und das Männliche höher zu setzen. Und dann erzählen wir nicht, dass wir/ Oder wir sagen: „Ich mache nur Handarbeiten. Ach, das habe ich eben schnell gemacht“ oder sowas. Und nehmen die Komplimente dafür nicht an, was wir machen. Und ich sage deswegen: Nähen soll wie Kochen sein, oder „Nähen ist das neue Kochen“, weil die Kleidung ist uns eigentlich fast genauso nahe wie das Essen. Also Essen ist unsere Energie, die wir nehmen, die wir tagtäglich brauchen. Und ohne Kleidung können wir quasi nicht das Haus verlassen, in unseren Breitengraden. Und beides sind weibliche Tätigkeiten. Beides sind weibliche Tätigkeiten, die abgewertet werden, und die nicht bezahlt werden eigentlich in unserer Gesellschaft. Wo diese „Care Arbeit“ als „fällt so vom Himmel“ gesehen wird. Und dieses System können wir nur verändern, indem wir das benennen. Und können sagen: Ja, da steckt eine Abwertung von weiblichen Tätigkeiten drinnen. Und da Aufwertung bei uns immer auch durch Geld passiert, kann man diesen Zusammenhang so stark auch formulieren.

Gabriele

Ja. Oh, ich sehe ganz, ganz viele Parallelen zwischen Nähen und Kochen. Das beginnt schon beim Einkauf der Zutaten. Einer der Gründe, warum ich dieses Textilportal gestartet habe, ist, dass ich am Bauernmarkt gestanden bin, am Samstag, und mir gedacht habe: Wie genial wäre das, wenn ich nicht nur mein Gemüse regional, bio, saisonal, vom Bauern hier zwölf Kilometer entfernt beziehen könnte, sondern wenn ich auch am Wochenmarkt Zutaten für meine Kleidung kaufen könnte.

Meike

Und wenn du wüsstest, wer die hergestellt hat, wo das wächst. Und wer das gemacht hat, ja!

Gabriele

Ja! Und wenn das im Umkreis von 50 Kilometern gewesen wäre, wie genial wäre das denn? Und wann haben unsere Bauern eigentlich aufgehört, die Zutaten für unsere Kleidung herzustellen? Ich meine, das ist ein ganz anderes Thema, und ganz lang, und geschichtlich usw.. Da gibt es Folgen mit Constanze Derham, wo wir das ein bisschen aufrollen. Aber auch das Kochen als Zutaten besorgen, aber dann kochen und/ oder eben parallel dazu das Nähen, das Stricken, das Handarbeiten, dass ich das herstellen kann. Und es hat auch so ein gutes Gefühl von: Ich weiß genau, was ich gekocht habe! Ich weiß, was da drinnen ist. Ich weiß, wer es gemacht hat. Es ist kein Convenience Fertigprodukt aus dem Tiefkühlregal. Und genauso die Kleidung: Ich weiß genau, wer es hergestellt hat. Ich weiß, wessen Arbeitszeit ich ausgebeutet habe, nämlich meine.

Meike

Genau. Aber dieses reproduktive Kochen, das ist ja sozusagen das, was ich unter Care Arbeit mache. Also wirklich jeden Tag wieder sich was einfallen zu lassen, was Gesundes auf den Tisch zu stellen. Aber es gibt ja noch den anderen Aspekt des Kochens, dass zum Beispiel Fernsehsendungen da sind. Also dass das gesellschaftlich thematisiert wird in großen Medien. Und das ist das, was ich meine „Nähen ist das neue Kochen“, dass ich mir einfach wünschen würde, dass Kleidung sowohl in der Herstellung der Ausgangsprodukte – der Fasern und der Stoffe – als auch den Verarbeitungstechniken, dass das einfach im Fernsehen mehr Raum bekommt als nur so ein bisschen ein Blick auf die Mode oder den Konsum. Das Kaufen. Und das ist sozusagen dieser Wunsch mit diesem „Nähen ist das neue Kochen“. Weil ich glaube, das, was du eben auch beschrieben hast, diesen Anspruch sollten wir eigentlich auch haben, ohne dass das dann zu so einer Religion werden muss und wir darüber streiten, welche Ernährungsweise besser ist, oder welche Bekleidungssachen besser sind. Aber wenn es einfach mehr thematisiert werden würde. Wenn wir einfach das noch mehr in den Fokus rücken würden. Das fände ich einfach total toll. Weil ich glaube, dadurch würde sich ganz viel verändern. Und da würde dann auch dieses: „Ich habe meine Kleidung selbst gemacht“ nicht dieses Geschmäckle mehr haben. Sondern dass man dann einfach sagt: „Hey guck mal! Ich habe das selbst gemacht, das ist total super.“ Und die anderen sagen: „Ja, finde ich auch super.“ Und jetzt, wenn man was Selbstgemachtes anhat, ich kenne das. Früher, als ich angefangen habe selbst zu nähen, da habe ich dann auch so Stoffe und Farben und Muster verarbeitet, dass das wirklich jeder sehen konnte, dass es selbst gemacht ist. Aber letztendlich habe ich dann auch oft gemerkt: Ich habe dann auch genau nur dafür die Anerkennung bekommen. Also für das Muster oder die Farbe. Und es geht ja nicht nur um Anerkennung, aber es geht darum, sozusagen noch mehr Menschen das Gefühl zu ermöglichen: Es ist voll okay das zu lernen, und das zu machen, einen Teil meiner Zeit zu investieren. Und dann eben auch dieses Wohlgefallen zu haben: Ich trag jetzt was, was mir genau passt.

Gabriele

Ja, und dieses gute Gefühl, oder wo man da hin kommen kann, das bezeichnest du ja als „die neue Dame“.

Meike

Ja, das war in Ermangelung eines Begriffes sozusagen. Wer sind wir denn dann? Wer können wir denn sein? Wer sind wir, diese Frauen, die aussteigen aus diesem Hamsterrad der Selbstoptimierung, die eben eine gewisse innere Stärke und Ruhe haben, weil sie eben diese selbstgemachte Kleidung tragen und wissen: „Ich sehe souverän aus. Ich bin souverän.“ Und dann habe ich gesucht nach so einem Wort, wie wir uns da beschreiben. Und dann ist mir eingefallen, dass es diese Bezeichnung „Dame“ früher noch häufiger gab. Und dann hatte ich erst so ein Abwehrding, weil meine Mutter immer gesagt hat: „Du wirst nie eine Dame!“ Und damit hatte das sozusagen so eine Latte, die ich gar nicht erreichen wollte, die da gelegt wurde. Aber ich habe mich dann auch an Damen erinnert, die so eine Haltung hatten, die aufrecht waren und die vor allen Dingen mit Respekt behandelt wurden. Und das war ein Aspekt, der mir sehr gut gefallen hat, zu sagen: Ja, wir verdienen doch alle Respekt. Wir wollen, dass Leute uns ernst nehmen. Und deswegen nenne ich das „die neue Dame“. Ich würde das aber auch als einen Arbeitsbegriff sehen. Ich weiß noch nicht, ob das sozusagen endgültig sich schon durchsetzt als Begriff. Aber ich finde immer, wenn man Dinge benennt, dann kann man auch darüber reden. Dann ist so eine Grundlage da, sich darüber auszutauschen. Und was wäre, wenn wir Frauen tatsächlich mehr Raum einnehmen würden, mehr Selbstbewusstsein hätten, uns richtig fühlen würden. Statt immer wieder zu sagen: „Ich muss da noch irgendwas ändern.“ Und wenn aber das so wäre – Wir fühlen uns richtig, wir nehmen Raum ein, wir sind stark – könnten wir auf sehr viele gesellschaftliche Bereiche Einfluss nehmen. Das ist die neue Dame.

Mitmachaktion „Das rote Kleid“

Gabriele

Und wir sind sichtbar. Es geht auch ganz stark auch um Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit. Und damit kommen wir zum nächsten Punkt, nämlich der Aktion, die ihr gerade habt: Ob ich mich jetzt mausgrau kleide und ein bisschen so im Hintergrund bleibe, oder ob ich mich stark, selbstbewusst nach vorne stelle. Vielleicht auch mit einer Farbe, die herausknallt aus der Masse der grau-braun-blau Sachen. Da habt ihr jetzt eine Aktion gestartet, die heißt: Das rote Kleid. Auch zu finden unter diesem Hashtag.

Meike

Der Hashtag ist #rotesKleid und die Webseite ist rotes-kleid.de, genau.

Gabriele

Ich packe das in die Shownotes, damit man sich das anschauen kann. Und das ist ja eine gemeinsame Aktion mit Constanze Derham und der Schnittmuster-Designerin Lindy Stokes. Die [Aktion] habt ihr euch überlegt. Was ist denn die Idee dahinter? Und was wollt ihr mit dieser Aktion bewirken?

Meike

Es geht genau darum, Frauen sichtbar zu machen. Also zu sagen, was du eben beschrieben hast, mit einer Farbe, die vielleicht ein bisschen mutiger ist, zu sagen: „Ja, hier bin ich! Ich nehme Raum ein. Nehmt mich ernst. Schaut mich an. Ich habe was zu sagen. Ich habe was zu bewirken.“ Und das ist ja was, was tatsächlich die gegenteilige Botschaft davon ist, was wir als kleine Mädchen oft mitbekommen haben: Nimm dich zurück. Sei hilfsbereit für die anderen und so weiter und so fort. Und meine Fantasie ist es einfach, dass wenn diese neuen Damen alle da sind, dass dann die Möglichkeit dazu da ist, die großen Probleme unserer Welt zu lösen, weil einfach das vielstimmiger ist, die Kompetenzen, die eingebracht werden. Weil einfach nicht nur die alten weißen Männer die Welt regieren, sondern dass eben ganz viele verschiedene Gruppen sich trauen, ihre Kompetenzen und ihre Meinung und ihre Bedürfnisse usw. einzubringen. Und eine Gruppe, die wir eben anschauen, sind jetzt die Frauen. Wo wir sagen: „Ey, nehmt euch nicht immer zurück, sondern bringt euch ein, zeigt euch.“ Und weil wir wissen, dass mit Rot das tatsächlich so einen „Bäm!“ Effekt macht, haben wir gesagt, wir unterstützen die Frauen dabei. Also wir fordern nicht nur: „Habt jetzt alle rote Kleider an!“ Sondern wir sagen: Wir begleiten dich auf deinem Weg zum roten Kleid. Und helfen dir, da so einen Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen. Und wenn wir das alle gleichzeitig machen, dann im Mai, dann brauchen wir nicht so viel Angst zu haben. Dann sind wir viele und können das gemeinsam tun. Und das ist die Idee hinter der Aktion „Das rote Kleid“, das wir vom Frauentag, oder vom feministischen Kampftag am 8. März ausgehend, Frauen begleiten auf ihren Weg zu roten Kleidern. Und von denen hoffen wir dann im Mai, und dann auch natürlich in Zukunft, ganz viele zu sehen.

Gabriele

Das ist ein Schritt zur Sichtbarkeit, im Grunde.

Meike

Genau. Und als wir das überlegt hatten, die Aktion: Wir saßen halt drei Freundinnen zusammen und haben gesagt: „Wir machen was!“ Uns war tatsächlich die Dimension nicht bewusst. Also uns war nicht klar, welchen Impact – wie man ja neudeutsch sagt – das Ganze hat. Also wie sehr das auch die Frauen bewegt. Wir haben dann halt überlegt: Wen sprechen wir noch an? Wer könnte noch was dazu geben? Und dann hatten wir solche Veranstaltung wie „Ist rot gleich sexy?“ Oder: „Was bedeutet die Farbe Rot?“, gleich am Anfang. Und da haben wir dann erst gemerkt: Wow! Das ist ein Thema, was auch uns wirklich berührt. Und was andere Frauen berührt. Und was auf einmal eine Dimension bekam, die wir, als wir im November auf die Idee kamen, nicht geahnt haben.

Gabriele

Wie kann ich jetzt.. Also du hast es schon ein bisschen anklingen lassen: Ihr habt ja im März gestartet, am 8. März, und die Aktion geht jetzt bis Ende Mai. Und bis dahin kann man sich, auch zum Teil begleitet, ein rotes Kleid nähen. Ihr habt ein paar Workshops, die jetzt noch anstehen. Wo ein bisschen Schnittmuster-Anpassung war da glaube ich dabei, und eine Schneiderpuppen nach eigenen Maßen [herzustellen]. Wie kann ich denn daran teilnehmen, wenn mich das interessiert, mit dem roten Kleid?

Meike

Grundsätzlich ist es eigentlich – die Hobby-Näherinne, die kennen ja diesen Begriff „sew-along“ [ein Miteinander-Nähen]. Eigentlich ist es ein sew-along. Und beim sew-along ist es ja so, dass wir immer diese Phasen haben. Vom gemeinsamen Pläneschmieden, über Schnittmuster Auswählen, Stoff Besorgen, nähen, und dann Zeigen. Das ist so dieser klassische Ablauf von einem sew-along. Und das rote Kleid ist so ähnlich. Wir hatten halt da, weil wir eben dieses Motto des roten Kleides haben, am Anfang eine etwas ausführlichere Phase, über das Thema uns bewusst zu werden. Und teilnehmen konnten alle, indem sie sich auf diese Mailingliste eingetragen haben, und dann einfach immer zu den Veranstaltungen eingeladen und erinnert werden, die es gab. Es ist tatsächlich so, dass wir nicht ganz so begleiten können im Sinne von: Wir nehmen alle ganz an die Hand, um ein rotes Kleid zu nähen. Diese ergänzenden Workshops sind zum Teil kostenpflichtig, während diese Inspirationstalks, wo es mehr um das Bewusstwerden geht, die waren eben kostenlos. Uns geht es aber maßgeblich darum, dass Frauen sich verbinden, und dass wir eben über diese Veranstaltung Verbindungen schaffen. Und wir haben zum Beispiel die Idee, dass wir ein gemeinsames Zoom-Nähkränzchen machen, wo wir gemeinsam nähen, am 23. April. Ich weiß jetzt gar nicht, wann deine Folge ausgestrahlt wird, ob das noch rechtzeitig für alle ist.

Gabriele

Ja, das könnte sein.

Meike

Ja, dann kann man sich anmelden, kriegt dann auch den Zoom-Link dafür. Und die Fantasie ist einfach: Welche Energie bekommt das, wenn wir wissen, dass Frauen weltweit an diesem Tag, in diesen Stunden, zusammen nähen? Natürlich werden wir jetzt noch nicht weltweit alle Frauen ansprechen. Aber die Idee ist für mehrere Jahre geplant, so dass das vielleicht auch über die Jahre hinweg wächst. Und wir fangen an. Und wir wissen jetzt schon, dass aus Italien, Spanien, Kanada, Australien auch Frauen sich dafür interessieren. Wir hoffen, dass das mit den Zeiten dann auch einigermaßen hinkommt. Dass die nicht mitten in der Nacht nähen müssen usw.. Aber auch das ist ja wieder dieses: Wir haben eine große Idee. Wir wollen Frauen verbinden, weltweit. Und das muss ja noch nicht im ersten Jahr gleich alles in großen Mengen passieren. Aber es darf eben auch wachsen. Und das steckt hinter dieser Aktion. Und am Anfang gab es ziemlich viel Inspirations-Talk. Wir haben ein Magazin, von dem dann auch mehrere Ausgaben erscheinen werden. Wir machen das sogar auch auf Englisch, was für uns auch eine große Herausforderung war. Aber wo wir gesagt haben: Wenn wir diesen Wunsch haben, es weltweit zu machen, dann sollen wir zumindest auf Englisch die Möglichkeit geben, daran teilzunehmen. Und dann ist das Ziel, dass während dieser Aktion, die es schon gibt, dem „Me Made May“ auf Englisch, dass man da dann eben diese roten Kleider auch zeigt. Weil diese Aktion, die gibt es schon seit zehn Jahren ungefähr, da zeigen Hobbynäherinnen, Selbstmacherinnen ihre selbstgenähte Kleidung. Und das hat mich immer wahnsinnig berührt, das so zu sehen, in diesen Mengen, den ganzen Mai über. Und da haben wir gedacht: Das ist einfach ein schöner Abschluss und eine schöne Gelegenheit, dann auch rote Kleider zu zeigen. Wobei man auch sagen muss, wir fassen „Rot“ sehr großzügig: von Rosa, Orange, bis ins Lila, Weinrot und so weiter. Und wir fassen auch das Thema „Kleid“ sehr großzügig. Also wer sozusagen erst beim Accessoire angekommen ist, bei einem Schal ist das okay. Oder die Strickjacke, oder das Oberteil, oder der Rock, oder so was. Auch da darf man reinwachsen, sozusagen.

Gabriele

Verstehe. Es erinnert mich jetzt ein bisschen an diese Hüte…

Meike

Pussy Hats!

Gabriele

Ja genau. Das erinnert mich dran, weil es auch so ein bisschen ein Symbolisiert ist, oder? Das rote Kleid als Symbol für…

Meike

Ja, genau, so ein Erkennungszeichen auch, ja. Das ist nämlich auch total schön, wenn man sich nämlich auf der Straße so erkennt. So wie die Motorradfahrer:innen sich grüßen, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Das ist nämlich auch so eine Sache, die mich total bewegt werden. Also wenn wir einfach einander erkennen, dass wir diejenigen sind, die eben selbst nähen, und wir sehen: Da sind noch mehr. Da sind noch mehr, die sich was trauen, die rote Kleidung tragen zum Beispiel. Dann erwächst daraus ja auch so eine Stärke, so ein Selbstbewusstsein. Weil man eben nicht alleine ist, die Welt zu verändern, sondern wir können das zusammen tun.

Gabriele

Das ist doch ein schönes Schlusswort.

Meike

Ja, wir könnten noch stundenlang reden. Aber genau, es gibt ja auch noch ganz viel zu sehen und zu lesen. Ja.

Gabriele

Wunderbar. Vielen herzlichen Dank. Wir haben einen kleinen Einblick gegeben.

Meike

Wir haben einen kleinen Einblick gegeben von dem, worüber ich seit über zehn Jahren nachdenke, und blogge, und schreibe, und Aktionen mache. Weil eben das Nähen für mich weitaus mehr ist als die Vermittlung von Techniken. Sondern weil das tatsächlich eine Bedeutung hat, die ganz viel mit dem Individuum, mit der einzelnen Person zu tun hat, aber eben auch gesellschaftlich. Und das ist das auch, was mein Motor ist, was mich treibt, Dinge zu tun. Auch Dinge kostenlos anzubieten. Weil ich einfach glaube, dass das was ganz, ganz Wertvolles ist. Und dafür danke ich dir, dass ich das erzählen durfte hier in deinem Podcast.

Gabriele

Sehr gerne. Die Revolution findet an der Nähmaschine statt.

Meike

Yes!


Kommentare

6 Antworten zu „Kleidung selbst zu nähen kann glücklich machen (Podcast #018)“
  1. Avatar von Anja Stetter

    Danke für diese bereichernde Folge! Ich fühlte mich sehr abgeholt von euren Gedanken zu normierter, „modischer“ Kleidung
    Ich habe eine Körperform, mit der ich zwar einfach passende Kleidung finden könnte. Aber mir geht es genauso, wie ihr das beschreibt. Jahrelang hab’ ich nur aus Not gekauft, was einigermassen zu meinen Wünschen, Bedürfnissen und vor allem zum Rest meiner Kleidung passte.
    Damit ist jetzt Schluss. Ich habe entschieden, mir meine Kleidung fortan selbst zu stricken, häkeln und nähen.
    Herzlich, Anja von ????Green-Needle

    1. Avatar von Gabriele Brandhuber
      Gabriele Brandhuber

      Großartig! Ein toller Vorsatz! Und ich freue mich sehr, dass wir mit der Podcastfolge vielleicht ein bisschen zu diesem Entschluss beigetragen haben. Liebe Grüße, Gabi

  2. Avatar von Yvonne Coutinho

    Eine wundervolle Podcast Folge, vielen Dank. Für mich war Nähen immer Ausdruck meiner Persönlichkeit. Es hat mir extrem gut getan eure umfassenden Gedanken zu hören, die ich in mir wieder gefunden habe.
    Alles Liebe Yvonne

    1. Avatar von Gabriele Brandhuber
      Gabriele Brandhuber

      Danke für deinen wunderbaren Kommentar, liebe Yvonne!

  3. Sehr anregend euer Gespräch, und du hast eine sehr gute Sprechstimme! Liebe Grüße, Silvia

    1. Avatar von Gabriele Brandhuber
      Gabriele Brandhuber

      Vielen Dank für deine Rückmeldung, liebe Silvia! Ich finde deine Rezension des Buches „Abschaffung der Problemzonen“ ganz toll. Liebe Grüße, Gabi

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